IV. Die Musik, meine Liebe und meine Sorgen: 1929-1932

Endlich war ich frei. Wochen harter Arbeit und Sorge lagen hinter mir, als ich im März 1929 mein Abiturzeugnis erhielt, das mir die Türen zu meiner Alma Mater, der Universität München, öffnete. Ein Blick auf meine Abschlussnote machte mich mürrisch, aber ich beruhigte mich schnell wieder. Wer interessiert sich von nun an schon für alte Sprachen, Mathematik oder Chemie? Ich war endlich frei, das zu tun, was ich wollte, und ich tat so, als hätte ich eine ziemlich klare Vorstellung davon, was das war. Mein Ziel war es, eines Tages ein berühmter Musiker zu werden, genauer gesagt ein Komponist. Mein Motiv war es, etwas von Bedeutung zu schaffen, das dem Leben einen Sinn gibt. Woher kam diese fast rasende Liebe zur Musik? Weder meine Eltern noch meine Vorfahren hatten je eine besondere musikalische Neigung gezeigt. Nur ich hatte dieses unstillbare Verlangen in mir. Voller Begeisterung belegte ich Kurse an der Universität und nahm Klavierunterricht, ein fester Bestandteil meiner zukünftigen Karriere. Nun, ich muss zugeben, dass unsere Nachbarn und der ältere Herr von Schab, ein Junggeselle und langjähriger Mieter von uns, weit weniger erfreut waren. „Dein ständiges Hämmern auf dem Klavier und deine langweiligen Übungen machen mich verrückt“, beschwerte er sich, das Streben nach professioneller Musikalität ist heutzutage ohnehin eine äußerst unanständige Idee.“ Das war eine starke Medizin, die ich nicht einnehmen wollte. Mein Entschluss stand fest. Neben dem Musikstudium verbrachte ich viel Zeit mit der Lektüre von Romanen, historischen und vor allem philosophischen Büchern. Zwei davon hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf meine persönliche Entwicklung: Prentice Mulfords [Sammlung von] Essays mit dem Titel: The Folly of Dying, die mich in die Yoga-Welt einführte. Der seltsame Mystizismus, der von diesem Essay ausging, ergriff sofort und dauerhaft mein Denken. Wo immer ich auch hinreiste, das Buch blieb mein Begleiter. Der amerikanische Journalist aus New Jersey verband die altorientalische Lebensweise mit westlichem Denken meisterhaft. Leider ist er in Amerika in Vergessenheit geraten, aber in Deutschland sind seine Schriften noch immer veröffentlicht und erhältlich. Einen entmutigenden Effekt auf mich hatte Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes – eine umfassende Studie in drei dicken Bänden. Jede kulturelle Einheit, so der Autor, wächst wie ein Individuum und erreicht in ihren künstlerischen Meisterwerken den Zenit, dann in großen technischen Errungenschaften, bevor sie in die Subkultur und schließlich in die Bedeutungslosigkeit abgleitet. Vergleicht man die mageren künstlerischen Leistungen von heute mit den brillanten technischen Errungenschaften von vor 100 Jahren und bedenkt man dann noch, welche technischen Fortschritte es eigentlich seither gegeben hat, gibt es keinen Zweifel daran, dass sich unsere westliche Kultur auf der Abwärtskurve befindet. Die Analyse machte mich krank, verzweifelt und geistig gelähmt. Plötzlich erkannte ich, dass mein sorgfältig ausgearbeitetes Ziel, der Fokus meiner Bemühungen, nicht dem historischen Trend entsprach. Die schreckliche Diagnose hinterließ bei mir ein Vakuum, das ich durch ein Theologiestudium zu füllen hoffte. Neun Monate lang vergeudete ich meine Zeit in diesem Fach, meist in einer Stimmung der Besorgnis und Traurigkeit. Das Priestertum, so stellte ich mir vor, würde mir innere Erleuchtung, finanzielle Sicherheit und nicht zuletzt viel Zeit zum Komponieren bieten, wenn es mir gelang, meine immer noch starken musikalischen Ambitionen mit meinen kirchlichen Pflichten zu vereinbaren. Die Idee sah vielversprechend genug aus, um mein verkorkstes Leben zu stabilisieren. Aber es gab eine Hürde. Ich brauchte die Zustimmung des Bischofs. Seine Exzellenz war jedoch nicht von meiner Aufrichtigkeit überzeugt. Obwohl er pastorale Freundlichkeit ausstrahlte, kritisierte er entschieden meinen Mangel an Ehrfurcht und sagte mir unverblümt: „Entweder du willst mit ganzem Herzen und ganzer Seele Priester sein, oder du kannst es lassen.“ Beunruhigt, desillusioniert und etwas erleichtert schritt ich langsam die Stufen des Palastes hinunter. Mein Interesse an der Theologie war schnell erloschen, und ich machte mich auf die Suche nach einem Job.

Ein kurzer Kurs im Verkauf von Versicherungspolicen trug keine Früchte. Ich war ein absoluter Versager und in diesem Milieu fehl am Platz. Die einzige Chance, die sich mir bot, war die schlecht bezahlte Stelle eines Präfekten in einem katholischen Heim für Lehrlinge. Das war der letzte Strohhalm, und ich habe ihn ergriffen. Ich musste das tun angesichts der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse im Mai 1931. Deutschland war in großen Schwierigkeiten. Die große Depression, die bereits die Vereinigten Staaten erfasst hatte, war auch auf Europa übergeschwappt. Die Arbeitslosenquote kletterte auf beängstigende 25 %. Deutschland, ein demokratischer Staat, zerfiel langsam. Die Menschen suchten händeringend nach Arbeit. Hitler und seine Gefolgsleute rüsteten sich für den finalen Sturmangriff. Wie konnte ich das noch länger aushalten? Ich wollte meinem Vater aus dem Weg gehen. Das tägliche Leben war so trostlos geworden, dass meine Eltern gezwungen waren, Hilfe zu suchen, die ihnen der Cousin meiner Mutter, Dr. Willi Specht, bot. Er schlug vor, einen monatlichen Scheck über 150 DM zu schicken, auf Darlehensbasis. Es war eine kleine Summe, die das Budget des Arztes kaum schmälerte, aber dennoch war es eine willkommene Unterstützung für meine Eltern. Die Spechts besaßen ein gut besuchtes Krankenhaus für Lungenpatienten und spekulierten auch darauf, dass eine Kompensation stattfinden würde, weil sie eines Tages alle Gemälde meines Vaters im Falle seines Todes erben würden. Als glühende Verehrer Hitlers sahen sie eine glänzende Zukunft vor sich und ahnten nichts von der drohende Katastrophe. Die Tragödie, die die Familie ereilte, war schwer. Ihr Sohn fiel im Krieg und ihr Besitz wurde von den Polen enteignet. Mein Bruder Rudi zahlte das Darlehen nach dem Krieg mit Geld zurück, das bald wertlos wurde. Die Spechts verschwanden dann aus unserem Blickfeld.

Anfang Mai 1931 zog ich aus dem Haus meiner Eltern in die Morassistraße 10, gelegen in einem der ältesten Stadtteilen Münchens. Das dreistöckige, etwas baufällige Haus war voll von jungen Leuten. Der Direktor, ein kleiner, flachnasiger, unglücklich aussehender Pfarrer, war kein besonders sympathischer Charakter. Sein Mangel an aufgeschlossener Freundlichkeit war in jeder Ecke des Hauses zu spüren, das er mehr wie einen Stall als ein Heim führte. Nur die Ursulinenschwestern, die sich um unsere körperlichen Bedürfnisse kümmerten, erhellten die sonst so deprimierende Atmosphäre. Der tägliche Umgang mit etwa 100 Jungen öffnete mir die Augen für die vielen Probleme, mit denen die heranwachsenden Generation umgehen mussten. Die meisten der Jungen kamen aus den unteren und untersten Klassen – nicht abwertend gemeint, sondern als Hinweis auf die verschärften Härten, mit denen diese Jugendlichen zu kämpfen hatten. Es war eine schwierige Aufgabe, diese Teenager zu führen, deren Handlungen und allgemeines Denken durch ihre starken tierischen Instinkte bestimmt wurden. Ich fühlte mich so unqualifiziert, mit diesen jungen Menschen umzugehen, denn ich hatte weder die Weisheit noch die innere Stabilität, um ihnen das zu geben, was sie am meisten brauchten: die klare Vision eines sinnvollen Lebens auf einer spirituellen Basis. Wie in vielen solchen Einrichtungen war der christliche Glaube, obwohl er täglich gepredigt wurde, für sie verloren, denn es fehlte ein wesentliches Element: die Liebe. Man konnte ihre Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung spüren, die ich zu geben versuchte, obwohl ich selbst nicht viel zu bieten hatte.

Zur gleichen Zeit wurde ein Theologieschulabbrecher eingestellt, der an seinem Doktor in Psychologie arbeitete. Sein Name war Willi Gerstacker, ein großer, asketisch aussehender Student, der, wie ich, für sich selbst sorgen musste. Präfekt zu sein ist ein Routinejob, erklärte er, und aufgrund seiner Herkunft waren die komplizierten Schichten menschlichen Verhaltens für ihn zweifellos weniger rätselhaft als für einen Studienanfänger und Musikstudenten wie mich. Meine Bewunderung für seine intellektuelle Überlegenheit und sogar für seine gelegentliche Schroffheit war schwer zu übertreffen. Dank seines ermutigenden und antreibenden Einflusses fand ich zum ursprünglichen Ziel zurück, trat in das Trapp-Konservatorium ein und verfolgte mein Studium in den nächsten vier Jahren konsequent weiter. Zwischen Willi und mir entwickelte sich eine enge, intime und intensive Freundschaft, die auch durch seine Heirat einige Jahre später nicht geschmälert wurde. Er bat mich, sein Trauzeuge zu sein, und ich komponierte dafür ein Stück für Cello und Orgel, ein Geschenk für ihn und seine reizende Braut, das während der Hochzeitsfeierlichkeiten uraufgeführt wurde. Nach dem Krieg hatte Willis Persönlichkeit eine seltsame Metamorphose durchgemacht. Er trennte sich von seiner Frau und seinen alten Freunden auf höchst unhöfliche und beleidigende Weise. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

Und wie steht es um die Liebe? „Gibt es keine interessanten Mädchengeschichten zu erzählen“, höre ich euch fragen. Wenn ich mich besinne, fallen mir sicher Namen und Gesichter ein. Schatten der Vergangenheit – doch einer Vergangenheit, die mich allzuoft mittellos, arbeitslos und hoffnungslos sah. Keiner wird bestreiten, dass diese Umstände dem Flirten wenig zuträglich sind. Dennoch boten die Ferienzeit und der illustre Münchner Fasching ein reiches Feld für so manche reizvolle Schönheit, aber die zarten Blüten der gegenseitigen Anziehung während einer bezaubernden Nacht verwelkten oft im Morgengrauen der aufgehenden Sonne, abgetötet durch den eisigen Atem der Realität. Jeder junge Mensch begegnet vermutlich diesen wirbelnden, heißen und bittersüßen Affären, die uns für ein paar Tage alles vergessen lassen und von denen doch kaum mehr als ein vager Eindruck in unseren Gehirnen zurückbleibt, bis der Tag kommt, an dem wir unserem Traumbild begegnen. Dann geben wir uns völlig hin, ohne zu wissen warum, ohne etwas anderes zu bemerken, als die schöne Verkörperung unserer tiefsten Sehnsüchte. So war es auch, als ich Gisela kennenlernte. Ein seltsames Band verband mich sofort mit ihr. Was für eine zierliche Figur sie hatte, was für eine lebendige Physiognomie und was für eine modische Frisur. Ich hatte mich ernsthaft in sie verliebt, ungeachtet der Tatsache, dass sie zwei Jahre älter war. Wir hatten viele gemeinsame Interessen, vor allem auf dem Gebiet der Kunst. Es folgten viele Monate der glücklichen Zweisamkeit. Wir schlenderten gerne durch den Englischen Garten, tanzten bis fünf Uhr morgens, feierten Burschenschaftsfeste und Karneval. Doch von Anfang an gab es einen kleinen Riss, sozusagen einen Schatten des Unterschieds in unserer Beziehung, den ich absichtlich und unablässig vermied zu bemerken. Sie mochte mich sehr, aber ich liebte sie. Eines Tages kreuzte ein anderer Mann unseren Weg, und Gisela lief ihm mit voller Wucht in die offenen Arme. Verletzt und gedemütigt konnte ich den plötzlichen Verlust nicht verkraften. Lange Zeit leckte ich meine Wunden und wurde unzugänglich für weibliche Annäherungsversuche. Aber selbst die blutigsten Wunden heilen irgendwann. Nur der Geschmack einer klaren Liebe und die Narben bleiben

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