Wir hoben bei Sonnenuntergang in Frankfurt ab und flogen in die lange Nacht. Nach kurzen Zwischenstopps in Irland und Island erreichten wir am Morgen des 2. Novembers die gefrorenen Seen und eisbedeckten Gipfel Neufundlands, durchquerten die weite Mündung der St. Laurence Bay und schaukelten durch die windgepeitschten Nordstaaten der USA. Regenschauer trübten den ersten Blick auf New York, das für die verwöhnten Augen eines europäischen Neuankömmlings ohnehin nicht besonders reizvoll war. Die Sümpfe und baufälligen Häuser, über die wir flogen, und vor allem die hässlichen Notleitern vor den Wohnungen, zerstörten alle hohen Erwartungen, die wir an die Metropole hatten. Unser erster Eindruck war also beunruhigend und wurde auch nicht besser, als Fritz, unser Sponsor, uns am Flughafen in einem schmutzigen, alten Auto mit zersplitterten Scheiben abholte. Er fuhr uns zu seiner schäbigen Hütte in Middletown, Connecticut, und ich werde nie die Enttäuschung vergessen, als wir seine unvorstellbar schmutzige Behausung betraten. Was für ein Start auf dem geheiligten Boden Amerikas, Gottes eigenem Land. Unsere Gefühle waren nicht anders als die vieler Pioniere vor uns, die bei Null anfangen mussten. Fritz war ein hartgesottener Junggeselle, der sich nicht viel aus Schmutz machte, aber er hatte eine fürsorgliche Seele und versuchte, uns auf jede erdenkliche Weise hilfreich zu sein. Er gab uns gute Ratschläge, zeigte uns die Gegend und machte uns mit der schönen Landschaft des Staates Connecticut bekannt. Sie war wunderbar, kein Zweifel. Aber wir waren nicht zum Urlaub machen hierher gekommen. Unsere Mittel waren erschöpft und wir konnten es uns nicht leisten, auf ein Wunder zu warten. Also bat ich Fritz nach der ersten Woche, uns nach New York zu bringen, wo es bessere Arbeitsmöglichkeiten und auch öffentliche Verkehrsmittel gab. Die Wohnungsvermittlung, die ich kontaktierte, mietete uns eine Vier-Zimmer-Wohnung in der Bronx. Es gab keine Innentüren, keine Heizung und keine Möbel, außer einem kleinen Petroleumofen in der Küche. Die Wohnung war furchtbar laut und nur zehn Meter von einer U-Bahn Haltestelle entfernt, die das ganze Haus mit einem donnernden Geräusch erschütterte. Ich musste zwei Monatsmieten im Voraus für diesen ungemütlichen Wohnraum bezahlen und eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, dass ich zwei Jahre lang in dieser Höhle zu bleiben beabsichtigte. Eine deprimierende Situation. In Deutschland hatten wir eine anständige grosse Wohnung, ein Auto und elegante Möbel aus bestem indischen Holz besessen, die wir für fast nichts hergeben mussten. Hier in New York hatten wir nichts, nicht einmal ein Bett. Wir schliefen auf dem Boden auf Luftmatratzen. Wir kauerten in der Küche zusammen, die mit einem Bettlaken bedeckt war, um die Wärme zu halten.
„Schließlich hatte Felix eine ausgezeichnete Idee. Unser Leben ist so langweilig. Lasst uns ein Radio kaufen.“
Die Gesellschaft Deutscher Freunde half uns, einen Job in einer Möbelfabrik in Hoboken, NJ, zu finden. Die Belegschaft bestand ausschließlich aus Puertoricanerinnen und anderen armen Einwanderern. Jeden Morgen fuhren Muck, Felix und ich mit der U-Bahn in die Stadt NY und dann mit dem Bus durch den Holland-Tunnel nach Hoboken. Wir arbeiteten den ganzen Tag für einen Wochenlohn von insgesamt nicht mehr als 120 Dollar. Unsere einzigen Freunde waren die Schwestern des nahe gelegenen St. Joseph’s Home. Sie sorgten auch dafür, dass Ekkehart in die Cardinal Hayes High School aufgenommen wurde, wo er während unserer Abwesenheit bleiben und sich mit der englischen Sprache vertraut machen konnte. Zwei Wochen später feierten wir meinen 50. Geburtstag in unserer stinkenden Küche. Ich glaube, es war ein Samstag. Es war nicht sehr lustig, denn wir saßen grübelnd und trübsinnig herum. Schließlich hatte Felix eine ausgezeichnete Idee. „Unser Leben ist so langweilig. Lasst uns ein Radio kaufen“, schlug er vor. Wir gingen sofort los, und als wir zurückkamen, hörten wir als erstes Mozarts Oper Die Zauberflöte. Der Raum war plötzlich von Licht erfüllt und eine elektrisierende Freude brach aus, die uns unsere schlimmen Umstände vergessen ließ.
Bald nach dieser Episode lernte Muck im Friseursalon eine nette Frau kennen, Frau Erna Burghart. Sie und ihr Mann kümmerten sich wirklich rührend um uns. Sie besorgten uns im ersten Schritt eine neue Wohnung ein Stockwerk unter der ihren. „Hans, ich habe einen zweijährigen Mietvertrag unterschrieben“, sagte ich zaghaft. „Du denkst immer noch wie ein Europäer“, antwortete er, „wirf die Schlüssel in den Briefkasten und hau ab. “Wir befolgten seinen Rat und zogen zwei Straßen weiter. Die neue Wohnung hatte heißes Wasser, ein gut funktionierendes Heizsystem und einen beruhigenden Blick auf den Hinterhof einer polnischen Kirche. Der erste Silberstreif am Horizont. Trotz einiger Zweifel habe ich nie etwas von dem Makler unserer ersten Wohnung gehört. Tatsächlich war es ihm rechtlich nicht erlaubt, diese Wohnung überhaupt zu vermieten. Aber er bekam das Geld und war offenbar zufrieden. Später sah ich ihn gelegentlich in der Kirche. Er ist einer dieser „guten Katholiken“, die genau wissen, wie man zwischen Gott und Geschäft unterscheidet, ohne sich daran zu stören. Kein neues Phänomen.
Sechs Wochen waren seit unserer Ankunft vergangen, und ich war immer noch dabei, Möbel zu polieren und Nägel in Sofas zu hämmern. Als ich gelegentlich durch das Fenster auf den Hudson River blickte, überkam mich eine große Traurigkeit und ich fragte mich, wie ich mich auf eine so völlig fremde Umgebung einlassen konnte. Unbegabt und uninteressiert wie ich war, dachte ich mir, dass die Firma nicht allzu sehr leiden würde, wenn ich kündigte. Und genau das tat ich. An meinem letzten Tag fiel ein schweres Stück Stahl auf meinen großen Zeh. Die Fabrik rächte sich, und ich verließ den alten Ort humpelnd. Muck und Felix setzten ihre Arbeit fort, aber ich begann in einem Wohnkomplex in der 5th Avenue in einem schwarzen Anzug und mit Fliege und weißen Handschuhen als Fahrstuhlführer zu arbeiten. Acht Stunden lang drückte ich Knöpfe und fuhr in mehrstöckigen Gebäuden auf und ab, plauderte freundlich mit den Wohnungseigentümern, netten Familien, reichen Junggesellen und flamboyanten Witwen. Diese Arbeit war nicht anstrengend, und ich hatte viel Zeit, um von einer intellektuelleren Tätigkeit und natürlich von einer besseren Bezahlung zu träumen. Im Laufe der Zeit wichen die verschwommenen Träume allmählich einer klaren, energischen Vision. Und plötzlich, drei Monate später, im März 1959, wurde die Vision Wirklichkeit. Als ich nach Hause kam, fand ich ein Telegramm im Briefkasten, das nur diese wenigen, aber bewegenden Worten enthielt: „Ruf mich an, Anita.“ Muck und ich rannten zur nächsten Telefonzelle und wählten die angegebene Nummer. Anita, Mucks Nichte, hatte ohne unser Wissen, Erkundigungen über unseren Aufenthaltsort eingezogen. Als Frau eines Highschool-Direktors, die ihr eigenes Ballett-Studio besaß, hatte sie Beziehungen und war entschlossen, uns den Weg zu ebnen. „Komm’ zu einem Vorstellungsgespräch bei der Brown Engineering Company“, sagte sie, „es ist alles arrangiert.“ Mein Gott, was für eine Erleichterung! Welch ein Wunder! Der erste große Schritt in ein anständiges Leben war getan. Wie bereits erwähnt, akzeptierte ich nicht das blinde Schicksal, sondern vertraute auf das grundlegende Gesetz von Ursache und Wirkung, das durch die Kraft jedes Gedankens und jeder Handlung die Wege unseres Lebens bestimmt. An jeder Kreuzung sah ich einen Mann oder eine Frau stehen, die mich in eine neue Richtung führen würden. Auf diese Weise, glaube ich, wird das Leben Knoten für Knoten zu einem Bild verwoben, das wir kaum erkennen, bevor es am letzten Tag vollendet wird.
Als ich bei der Brown Engineering Company in Huntsville, Alabama, angestellt war, war ich überrascht von dem Vertrauen, das meine Chefs in mich setzten. Vom ersten Tag an konfrontierten sie mich mit den schwierigsten Stress- oder mechanischen Belastungsproblemen, wie zum Beispiel dem Saturn-Testturm oder dem riesigen Saturn-Raketentransporter. Aufgaben, die mich zum Schwitzen brachten. An den Wochenenden studierte ich Mathematik und Bauingenieurswissenschaften, um mir die geforderten und so dringend benötigten technischen Fähigkeiten anzueignen. Doch all meine Bemühungen wären ohne die richtige Unterstützung vergeblich gewesen. Zur richtigen Zeit war wieder der richtige Mann da. Sein Name war Troy Smith, ein außergewöhnlich guter Mensch mit einem Master-Abschluss und langjähriger Erfahrung als Ingenieur. Er half mir, wenn ich feststeckte. Er brachte mir bei, wie ich die Werkzeuge zur Lösung analytische Probleme einsetzen konnte und erwies sich nicht nur als loyaler Kollege, sondern auch als guter Freund, mit dem ich sowohl beruflich als auch persönlich in engem Kontakt stand und noch bis jetzt stehe.
Meine Zugehörigkeit zur Brown Engineering Company dauerte neun Monate. Aufgrund von Auftragsmangels wurden bis Ende 1959 500 Mitarbeiter entlassen. Kurz vor Weihnachten erhielt auch ich meine Kündigung. Das war ein schwerer Schlag für uns. Auf meiner verzweifelten Suche nach Arbeit eilte ich von Firma zu Firma, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Die Möglichkeiten waren so begrenzt, dass wir bereits daran dachten, nach New York zurückzukehren, obwohl wir Huntsville und seine Umgebung liebten. Außerdem war ich bereits stark in das kulturelle Leben eingebunden. Ich leitete einen Kirchenchor, den ich gegründet hatte, und spielte Geige im Huntsville Civic Symphonie-Orchester. Aktivitäten, die ich aufnahm, um ein Forum zu haben, in dem ich meinen noch nicht ganz schlummernden musikalischen Ambitionen Ausdruck verleihen konnte. Meine aktive Teilnahme an diesen Aktivitäten hatte nun eine bedeutende und weitreichende Wirkung. Einflussreiche Leute, die ich traf, hörten von meiner Notlage und arbeiteten hinter den Kulissen daran, mich in den Staatsdienst zu bringen, wo es übrigens viele offene Stellen gab wegen der bevorstehenden Trennung von Armee und NASA. Am 1. Februar 1960 trat ich bei der Army Ballistic Missile Agency im Redstone Arsenal als Luftfahrtingenieur ein, eine Position, die ich in den nächsten 13 Jahren behielt. Trotz mehrerer Stellenstreichungen schien mein Job sicher zu sein. Die Armee behandelte mich großzügig mit Beförderungen und Belohnungen, bis ich meine Karriere in einer Position beendete, von der ich 20 Jahre zuvor kaum hätte träumen können.
